Lulu
Lady Lou, Lulu genannt, kam (jetzt ist Ende 2020) vor 2,5 Jahren zu uns. Sie kam als eine sehr durchsetzungsfähige, große Holsteiner Schimmelstute in unsere Herde. Gnadenlos deutlich übernahm sie das Amt der Leitstute von unserer zwei Jahre älteren Islandstute. Wie oft biss und trat sie wild um sich, wenn irgendein Pferd ihrer 10 köpfigen Herde nicht das machte, was sie wollte.
Lulu kam aus einem Offenstall. Dort durfte sie stundenweise auf die Weide, wurde ansonsten mit Heu etc. von Menschenhand gefüttert. Vor dem Offenstallaufenthalt stand sie viele Jahre in einer
Box.
In unserem Garten fiel uns auf, dass man Lulu frei stehen lassen konnte, sie bewegte sich stundenlang nicht von dort weg, wo man sie abgestellt hatte. Selbst auf der Wiese im Garten, frei, also
unangebunden, abgestellt, fing sie nicht das Grasen an, es sei denn wir machten es ihr vor.
Was direkt mit ihrer Ankunft in der Herde ebenfalls auffiel war, dass der Verbrauch an Heu enorm zunahm. Gleichzeitig wurde die Wiese weniger konsequent abgegrast als bisher. Warum konnte das
passieren? Ich teste die notwendig Menge Heu permanent neu aus, in dem ich Heu erst mal nach Plan und Anzahl Pferde berechnet, gebe: Bleibt was übrig oder ist einiges vor den Netzen zertreten und
veräppelt, gibt es etwas weniger. Ist alles leer und die Pferde stehen am Tor wenn ich zum Heu nachlegen komme, ist es zu wenig. Ist alles leer, nichts zertrampelt und kein Pferd drängelnd hungrig,
ist es perfekt. Als Lulu kam war es als hätte sie der Herde gesagt „so viel Heu wie von den Menschen gebracht wird, wird auch gegessen. Es wird nichts übriggelassen.“ D.h. Mein Austesten endete nie.
Immer wurde alles gegessen. Ich musste das Maß persönlich festlegen, anders ging es gut ein Jahr lang nicht.
Im nächsten Sommer nach Lulus Ankunft hatte sie gelernt, dass wenn sie frei im Garten herumläuft, auch wie jedes Pferd bestimmen darf, ob sie vom Gras nascht und wo bzw. wieviel sie davon nascht. Wie
groß war unsere Freude zu sehen, wie sie sich langsam an die neuerworbene Freiheit herantastete.
Im ersten Winter in Freiheit musste sie eine Decke tragen, bei ihr wuchs kaum Winterfell. Einen Winter später war das nicht mehr nötig. Die Natur nahm wieder Besitz von ihre Haut und lies wachsen,
was nötig war, um selbständig durch den Winter zu kommen.
An ihren Hufen waren Hufeisen, bis sie zu uns kam. Nun waren die Hufeisen weg und so mancher befürchtete, Lulu könnte ohne Hufeisen nicht laufen. Aber zu aller Erstaunen trugen ihre Hufe sie auch
ohne Hufeisen sicher und stabil. Wurde der Weg mal sehr steinig suchte sie den Wiesenrand. Das war aber das Einzige, woran zu merken war, dass sich auch ihre Hufe für sie wie Neuland anfühlten. Ich
habe ihre Hufe nur sehr wenig verändert, ich habe vor allem die Natur unserer unterschiedlichsten Böden am Platz wirken lassen. Lulu hat uns in den letzten 2,5 Jahren ohne Hufeisen oder Hufschuhe
dreimal von Gelting nach Deisenhofen und zurück begleitet, was je nach Richtung zwischen 4 und 7 Stunden-Ritte waren. - Und immer war es Lulus weisse Silhouette, die alle Nachbarn unserer Weide dort
in Deisenhofen im Abendschein faszinierte.
Ich machte kürzlich eine Pferde-Familienaufstellung, dabei wollten 4 der 10 Pferde mit mir zusammen über Stellvertreter aufgestellt werden. Lulu stand dabei an meiner linken Seite. Sie stand feste
und selbstsicher als Leitstute da und versicherte mir, sie kann, will und wird die Herde mit mir zusammen, an meiner Seite halten. Auf die Frage, ob noch mehr Pferde in die Herde eingefügt werden
könnten, sagte sie „so lange Iris hier ist, ja gerne".
So sehr war sie also mittlerweile in ihre Leitstutenrolle hineingewachsen. Schon lange biss und trat sie nicht mehr um sich. Wenn sie kam war allen klar, wer gehen und wer bleiben durfte. Sie war
gnädig, gelassen und sich ganz gewahr ob ihrer Verantwortung. War sie länger im Garten, um extra Futter zu genießen, wollte sie alsbald zurück zur Herde. Wie oft stand sie wie eine Erscheinung in der
untergehenden Sonne. Als sei sie nicht von hier, nicht irdisch, sondern ein hochschwingendes Energiewesen.
Nun ereignete es sich, das ein neues Pferd in die Herde kam. Ebenfalls eine Schimmelstute, ein sächsisches Warmblut. Baronesse stürmte in die Herde, wenig demütig wollte sie direkt die Spitze der
Rangordnung erklimmen. Was Lulu normalerweise ihrer Herde überließ, machte sie diesmal nach 10 min. persönlich klar: „die Neue hat hier nichts zu sagen“. Lulu, nun 28 Jahre alt und mit einem dicken
Elefantenfuß (seit ca. 15 Jahren eine Phlegmone) gezeichnet, wälzt sich während der Neuankunft von Baronesse. Diese hält aber keinen respektvollen Abstand zu ihr, woraufhin Lulu mit aller Wucht
hinten nach Baronesse ausschlägt. Trotz Elefantenbein, sehr erstaunlich. Das zeigte aber auch, welchen Leitstutendruck Baronesse auf Lulu ausübte. Beiden war klar, hier verändert sich etwas
Bedeutendes. Eine Woche lang war sich die 10 köpfige Herde einig, dass die Neue zu arrogant und zu wenig demütig ist. Sie ließen sie nicht mitfressen. Versuchte ich, Baronesse zu einem anderen
Heuplatz zu führen, kamen sogleich zwei andere Pferde hinterher, um sie von dort wieder weg zu schieben. Es war genug Wiese zum Fressen da, Baronesse musste nicht Hunger leiden, aber sie durfte nicht
mit der Herde Heu fressen.
Nach einer Woche war Pinocchio, braunes bayrisches Warmblut, so nett und ließ die Neue neben sich fressen. Einen Tag später konnte ich beobachten, wie Lulu zum ersten Mal hinzutrat; zu Baronesse und
Pinocchio. Als wollte sie sagen: „ok, es ist an der Zeit“. Sie stellte sich sehr deutlich im Frieden zwischen Baronesse und Pinocchio. Ich war erstaunt und wusste zugleich, dass es jetzt passiert.
Lulu gibt ihr Leitstutenamt ab und wird uns für immer verlassen. Tränen bahnten sich ihren Weg. Welche Ehre, dass sie einige Zeit lang unsere Leitstute war und uns ihre Gnade, Kraft und Energie hat
spüren lassen. Nun wird sie gehen.
Einige sagten „wer weiß, vielleicht überrascht sie uns doch wieder und lebt glücklich weiter“.
Genau so war es nämlich vor ca. 2 Jahren, Lulu konnte wegen ihres Elefantenbeins auf einer Eisplatte nicht mehr aufstehen und sollte eigentlich eingeschläfert werden. Damals stand sie aber mit
Hilfe einiger Nachbarn und Freunde, mit einem Ruck doch wieder auf, als die Tierärztin „Euthanasie einleiten“ sagte. Sie durfte weiterleben.
Ich wusste dass es diesmal anders war.
Ein Tag nach ihrer Amtsübergabe humpelte sie nicht nur hinten rechts mit dem Elefantenfuß sondern auch vorne links. Dieses Bein wirkte total überlastet.
Zwei Tage nach der Amtsübergabe brachten wir das Essen und Trinken zu ihr nach hinten, sie konnte den Weg in den Garten und zum Weiher nicht mehr laufen. Ihre hinteren Körperöffnungen schienen
plötzlich geschwollen. Wir spülten sie zur Linderung.
Drei Tage nach der Amtsübergabe wollte Lulu nicht mehr laufen, sie stand überdehnend auf ihrem linken Vorderhuf. Dann fing sie an, aus mehreren Körperöffnungen zu bluten. Noch an diesem Tag ging sie
endgültig von uns.
Die Besitzer von Baronesse erzählten uns später, dass Baronesse eigentlich vor ca. 2 Jahren verkauft werden sollte. Das wurde aber dann doch ganz kurzfristig wieder abgebrochen.
Nun ist Lulu nicht mehr unter uns Lebenden, Baronesse ist die hochrangigste Stute aber unser höchster Wallach hat im Moment das Sagen. Wir brauchen viel weniger Heu als bis vor kurzem
noch und die Weide wird wieder viel besucht und abgefressen. Alles fühlt sich anders an.